Viagra für die Digitalisierung des Marketings
Viagra für die Digitalisierung des Marketings

Ralf Strauß ist genervt. Der Präsident des Deutschen Marketingverbands ist das ewige Buzzword-Bingo leid. Deutsche Marketer seien besonders gut darin, auf der strategischen Ebene ihre Visionen auszubreiten, es fehlt aber flächendeckend an Umsetzungskompetenz. Das ist der Grund, warum der diesjährige Marketing Tech Monitor noch stärker als in den letzten Jahren auf Aufklärung und Weiterbildung setzt. Die Statistiken aus der im Februar erfolgten Erhebung unter 1.500 Marketern werden zum illustrativen Beiwerk. Umsetzungsbeispiele, Fallstudien, Anleitungen und Definitionen machen das 182 Seiten starke Werk zu einer komplexen Analyse sowohl des Ist-Zustands aber auch der Potentiale und Mängel im digitalen Marketing-System.

Und der MTM spart nicht an Kritik, teilweise mit zynischem Unterton. So werden die Versuche zahlreicher FMCG-Unternehmen, eine eigene 1st-Party-Data-Strategie auf- und umzusetzen, schon mal ins Reich des Absurden verdammt: „Für Konsumgüterhersteller (Food) etwa stellt sich immer noch die Frage, ob sich bei Produkten mit einem VK-Preis von 2-3 € und einem Promotion-Anteil von 70-80 % im stationären LEH (und dem Fehlen eines digitalen Produktes) dennoch Kunden zur Herausgabe ihrer 1st-Party-Date motivieren lassen.“

MTM 2022
Die steigende Komplexität verbunden mit dem Verlust des „einfachen“ Systems 3rd-Party-Cookies bereitet den deutschen Marketern Kopfschmerzen – Foto: Marketing Tech Monitor 2022

Genau das ist die Lücke, die zwischen Strategie und Umsetzung klafft, von der Ralf Strauß im exklusiven Interview mit MEEDIA spricht. Weitere Beispiele gefällig:

  • Ein etabliertes Zusammenspiel zwischen Fachbereich und IT zur weiteren Digitalisierung existiert nur in rudimentären Ansätzen.
  • Die Vielzahl an neuen Technologien und Begriffen trifft auf eine eher traditionell geprägte Marketing-Organisation, die sich an Reichweite orientiert.

Wichtige Erkenntnisse aus dem MTM 2022

Aber der Marketing Tech Monitor hat auch eine Erklärung für die Missstände parat: Die Tool-Landschaft ist unglaublich komplex geworden. Statt der längst erwarteten Konsolidierung im Markt haben sich die Aktivitäten in Sachen Neugründung und Neuentwicklung noch beschleunigt. „Es ist eine wirklich lustige Situation,“ sagt „Chiefmartech“ Scott Brinker, „alle haben Marktbereinigung erwartet und das Gegenteil ist passiert“.

Inzwischen zieren fast 11.000 Unternehmensnamen die Lumascape, jene völlig unübersichtliche Logoansammlung, die dereinst entwickelte wurde, um mehr Überblick und Struktur anzubieten. Heute steht die Lumascape für den Entwicklungsboom einer wildgewordenen Branche. „Tools auszusuchen ist nicht die Kunst, der Markt ist voll damit. Die Magie liegt in der intelligenten Einbindung und Aktivierung der Möglichkeiten“, so zitiert der MTM Kirsten Nachtigall, Vice President Marketing bei RTL.

Dazu passt eine besorgniserregende Zahl, die der MTM 2021 ermittelt hat. 80 Prozent der Unternehmen im DACH-Raum nutzen ihre eigenen Tools nicht. Während die Toolauswahl akribisch vorgenommen wird, werden dann die in der Software enthaltenen Funktionen nur unzureichend genutzt. Nur die einfachsten Tools, die oft mit einem einzelnen Aufgabenbereich konfrontiert sind, werden ausgereizt. Das gilt für Analytics oder Reporting-Tools. Der extrem hohe Wert an brachliegender Investition wird noch erschreckender, wenn man dagegenhält, dass Gartner weltweit meint, dass „nur“ 58 Prozent der Unternehmen ihre Tools nicht ausreichend nutzen.

Interessant ist, dass die oben zitierten Zahlen zusammenpassen. Die stark steigende Menge an verfügbaren Werkzeugen ist vor allem auch dem geschuldet, dass sich selbst einzelne kleinere Anwendungen zur Suite weiterentwickeln. Wobei ob das tatsächlich eine „Weiterentwicklung“ ist, stellt der MTM 2022 in Frage. Die Rede ist von einem „Flickenteppich“ mit stellenweise allenfalls rudimentärer Funktionalität.

Aber die Entwicklung ist logisch, denn wenn die Marketer überfordert, inhouse eine Integration ihrer Tool-Landschaft zu leisten, dann schreit das ja danach, dass die Anbieter bereits integrierte Suiten liefern. Unternehmen dagegen, die dank intensiver Inhouse-Arbeit in den letzten Jahren eine gewisse Robustheit im Umgang mit Martech erworben haben, wollen gar keine Pseudo-integrierten Suiten. Sie suchen nach guten Einzellösungen: „Wir brauchen weniger große Programm-Pakete, eher schauen wir uns fokussiert einzelne Best-of-Breed-Lösungen an“, sagt Nicolai Johannsen, Vice President Consumer Interactions bei Otto.

Die wichtigsten Herausforderungen

Wie bereits letztes Jahr ersichtlich wurde, leiden die deutsche Marketer vor allem an der Komplexität der Medienlandschaft. Von „Mediainflation“ spricht der Marketing Tech Monitor. Gemeint ist die weiter ansteigende Menge an Touchpoints. 78 Prozent der Befragten finden das die größte Herausforderung der aktuellen Zeit. Und die Komplexität nimmt zu, weil das vergleichsweise einfach zu nutzende Targeting-Systeme basierend auf 3rd-Party-Cookies sukzessive verschwindet. Genau dieser Wegfall ist der zweite große Schmerzpunkt der deutschen Marketer. Für zwei Drittel bedeutet der Cookie-Verlust schlaflose Nächste.

Mehr als die Hälfte der Unternehmen fühlen eine unangenehme Abhängigkeit von Agenturen und Dienstleistern und möchten das gerne ändern. Insofern kann es auch nicht überraschen, dass der Aufbau von internem Knowhow für zwei Drittel der Unternehmen eine hohe Bedeutung hat. Die Personalisierung der Kundenansprache – ehedem Hohelied des Digitalmarketings – genießt dabei nur noch für 16 Prozent der befragten Firmen oberste Priorität. Auch das Aufbrechen von Silos wird nur von 14 Prozent genannt.  

Allerdings steckt auch hier der Teufel im Detail. Angesichts des massiven Fachkräftemangels im Digitalmarketing forderte Saatchi-Chef Christian Rätsch im MEEDIA-Interview, dass man einerseits mehr Digitalexperten aus dem Ausland rekrutieren möge, andererseits stärker auf interne Qualifikationsmaßnahmen setzt. Das ist es aber genau nicht, was die beschleunigte Digitalisierung durch Corona hervorgebracht hat. Nur 16,4 Prozent der befragten Marketingmanager geben an, dass sie in den letzten beiden Jahren verstärkt zertifizierte Bildungssysteme eingesetzt hätten, um das interne Knowhow zu steigern.

Fazit

Und so bleibt die Lage in Marketing-Deutschland angespannt. Die Überforderung mit der schnell vorschreitenden Digitalisierung und dem gleichzeitig limitierenden Faktor des Datenschutzes führt zu zu Lähmungserscheinungen. Während die US-Kollegen in solchen Fällen pragmatisch vorgehen und ein Problem nach dem anderen lösen, wünscht sich der deutsche Marketer eine Lösung aus einem Guss.

Jeder fünfte stellt sich ein schlechtes Zeugnis aus, wenn es um die Tool-Architektur geht. Sie sei nicht dokumentiert und „eher unbekannt“. Neu ein Prozent der Marketer sieht sich zukunftssicher aufgestellt. Der MTM nennt diese Menschen die „Happy Digitalisierer“. Das sind vor allem Unternehmen aus Beauty und Kosmetik, die mit Budgets über 50 Millionen Euro unterwegs sind. Sie geben schon heute bis zu 25 Prozent ihres Budgets für Tools aus. Ein Wert, den Gartner als Richtlinie definiert. Unternehmen mit kleinerem Marketingbudget liegen weit darunter, sogar unter 10 Prozent vom Budget.

Die Liste der gescheiterten Versuche in den letzten beiden Jahren ist lang. Fast 70 Prozent der Befragten ist es bis heute nicht gelungen, eine Omnichannel-Strategie so auf den Weg zu bringen, dass man selbst damit zufrieden ist. Am Ziel, mehr Consumer Insights zu gewinnen, ist die Hälfte der Marketer bislang gescheitert. Und etwa ein Drittel versuchte vergeblich, eigene E-Commerce-Strukturen zum Leben zu erwecken.

Aber immerhin: Die Marketer haben das Problem erkannt und geloben Besserung. Eine CDP (Customer Data Platform) – nach heutigem Wissenstand das Herzstück das Datenmarketings – haben zwar erst 15 Prozent im Einsatz, satte 77 Prozent planen dieses. Serverside-Tracking, eine der möglichen Alternativen zum Cookie-Verlust wird von einem Viertel der Befragten als Lösungsmöglichkeit verworfen. Satte 74 Prozent planen dessen Einsatz oder evaluieren bereits Lösungen. Und fast das gleiche Bild ergibt sich bei den Data Clean Rooms. Jeder fünfte deutsche Marketer testet gerade ganz konkret. Die Hälfte will eine solche Lösung künftig einsetzen.

Unterm Strich zeigt der diesjährige Marketing Tech Report nach wie vor viel Unsicherheit, aber auch Bewegung. Bleibt nur zu hoffen, dass die Angaben im Fragebogen des Marketing Tech Lab nicht nur Lippenbekenntnisse sind. Damit sich Ralf Strauß beim Verfassen des MTM 2023 nicht wieder aufregen muss.

Für alle, die es ernst meinen, sei der MTM 2022 als Lektüre empfohlen. Er enthält neben den oben beschriebenen Mahnungen auch jede Menge Handlungsempfehlungen und liefert Einblicke in die Vorgehensweisen von VW, Flaschenpost, Vodafone, Domino’s Pizza und der Lufthansa in den Fallstudien.